VI. Der entwickelte Kapitalismus in Aserbaidschan

a) Weinherstellung


Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gerieten Weinbau und die ganze Landwirtschaft Aserbaidschans unter den Einfluss der neuen, kapitalistischen Bedingungen. Während in Russland der ökonomische Rückstand und die Reste des Leibeigenschaftssystems die Entwicklung des Kapitalismus einengten und verlangsamten, hatten die weiten und rohstoffreichen Gebiete der nichtrussischen Randgebiete begünstigende Einwirkung auf die Entwicklung von Landwirtschaft und Handel. Das unter dem Einfluss des russischen Marktes anwachsende Potential des landwirtschaftlichen Handelns war eines der Hauptcharakteristika der Entwicklung von Aserbaidschan. Infolge des Spezialisierungsprozesses der Landwirtschaft nach geographischen Gebieten wuchs der Ertrag des Weinbaus in den Gouvernements Jelisawetpol und Schemacha.

In den Jahren 1870-1873 nahmen die Weinberge im Kreis Geoktschaj (Gouvernement Jelisawetpol) 791 Dessjatinen (altrussisches Maßsystem: 1 Dessjatin = ca. 1,1 ha) ein, im Kreis Schemacha waren es 496 Dessjatinen. 1896 betrugen alle Obst- Seiden- und Weingärten allein des Gouvernements Jelisawetpol mindestens 40000 Dessjatinen.

Die Entwicklung der Weinherstellung im 19. Jahrhundert hatte Aserbaidschan vor allem seinen deutschen Bürgern zu verdanken. Die deutschen Kolonisten kultivierten die Weinrebe ausschließlich zur Produktion von Wein, der zum größten Teil verkauft und zu einem höchst einträglichen Zweig der Landwirtschaft wurde. Es wurde zur Hauptquelle des Wohlstands der Kolonien. Dies erklärt die ständige Erweiterung der Weinanbaugebiete in den Kolonien Helenedorf, Annenfeld, Georgsfeld, Sejfalu und dem Marktflecken Karajery. Die eigenen Weingärten wurden von den Winzern und deren Familien bestellt.

Die Weinherstellung begann sich allmählich in den Händen von Großunternehmern zu konzentrieren, die ihre Geschäfte nach den neuen kapitalistischen Prinzipien organisierten. Aus der Mitte der deutschen Kolonisten von Helenendorf gingen Christopher Vohrer und Christian Hummel zwei bekannte Unternehmer und Gründer von Großaktiengesellschaften im Wein- und Spirituosengeschäft, hervor.

1860 gründete Christopher Vohrer mit seinen vier Söhnen Aktiengesellschaft „Unternehmen Christopher Vohrer und Söhne“. Die Firma wuchs sehr schnell: im Jahre 1872 besaß das Unternehmen bereits größere Weinanbauflächen. Zum 1897 waren es schon 2000 Dessjatin (ca. 2200 ha). Das Familienunternehmen von Christian Hummel „Gebrüder Hummel“ konzentrierte sich dagegen auf dem Ankauf von fertigen Weinen oder Säften als Ausgangsmaterial für eigene Produktion.

Der Schwerpunkt bei den anzupflanzendenen und anzukaufenden Weinreben lag auf den ortsansässigen Traubensorten. Ein Grossteil der Weinstöcke kam aus dem Kreis Schemacha, wo auf den hügeligen Ebenen die Sorten „Kara Schirej“ und „Madrassa“ wuchsen. Auch andere einheimische Weinsorten, wie Rkaziteli, Saperwali, Mzwane, Lokani, Takweri und Achschira, fanden in den Weingärten von deutschen Kolonisten ein Zuhause. In geringeren Mengen waren auch die „bekannten Europäer“ vertreten: Riesling, Aligote, Muskat, Merlot, Bordeaux, Cabernet u.a. Sie waren aber im Gegensatz zu den einheimischen Sorten nicht durch eine jahrhundertenlange Erfahrung in der Region erprobt. Sie gerieten daher regelmäßig auf so genannten „Schulländer“, wo sie unter ständiger Beobachtung erforscht wurden. Dabei wurden großzügig Hilfskräfte eingestellt, unter anderen auch aus georgischen Kachetien und Imeretien.

Bild rechts oben: Christopher Vohrer (mitte) mit seinen Söhnen.
Bild rechts unten: Weinkeller in Grünfeld, Anfang 20. Jahrhunderts.


Beide Großunternehmer besaßen geräumige Weinkeller. Die unterirdischen Weinkeller von Hanlar, Gandscha, Schamchor, Karajery und Taus stehen bis heute als ein gutes Andenken an die deutschen Kolonisten da, die so viel für den Anbau und die Entwicklung der industriellen Weinproduktion in Aserbaidschan getan haben.

In den letzten Jahren des ausgehenden 19. Jahrhunderts zog die Winzerei - wie an einem Seil - die Produktion von Kognak nach sich. Dieses in Europa traditionelle Getränk war im Osten bis dahin unbekannt. 1892 errichteten die Gebrüder Vohrer die erste Kognakfabrik in Aserbaidschan. 1895 eröffneten „Gebrüder Hummel“ in Helenendorf eine zweite Kognakfabrik. Die anfangs wegen hohen Herstellungskosten langsam wachsende Kognakproduktion erhielt durch Besteuerungvergünstigungen von 1901 neue Anreize.

Mit aktiver Handelstätigkeit bildeten Vohrer und Hummel ein breites Netz von Lagern und Vertretungen im gesamten russischen Reich. Es fanden auch Exportlieferungen statt, u.a. nach Deutschland und Holland. Die Exporte erweiterten sich als der Wein aus dem „Handelshaus der Gebrüder Vohrer“ 1900 auf der Pariser Weltausstellung mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde. Es folgten dann weitere Auszeichnungen von anderen Weinkennerforen.

Zu Anfang 20. Jahrhunderts existierten mehrere von aserbaidschanischen Deutschen gegründete Genossenschaften, die in Spirituosengeschäft tätig waren. Mit weiterer Expansion des Geschäfts wurde denen bewusst, Absatzfunktion in ihre Tätigkeit aufnehmen zu müssen. Zur Lösung dieser wichtigen Aufgabe wurden 1908 die landwirtschaftlichen Genossenschaften „Concordia“ (in Helenendorf) und „Merkur“ (in Grünfeld) ins Leben gerufen. Diese stellten zum größten Teil einen Zusammenschluss der Mittelbauern dar. Beide Gesellschaften waren in deren Struktur ähnlich angelegt.

Nicht unberücksichtigt blieb auch die Vorliebe der Deutschen für Bier. Noch 1863 errichtete Vohrer in Helenedorf eine Brauerei. Vohrerisches Bier konnte aber der Konkurrenz des von der Qualität her minderwertigeren aber billigeren Bieres aus dem Wolgagebiet nicht standhalten, das den Markt in Baku überschwemmte.

Bild links: eine Bierflasche aus Vohrerschen Brauerei.

 

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